Die Durchschnittsfalle

Markus Hengstschläger: Die Durchschnittsfalle. Gene-Talente-Chancen.Gene - Talente - Chancen

Markus Hengstschläger meint: Das österreichische Schulsystem ist besonders effektiv darin, die Schüler/innen auf ihre Mängel hinzuweisen und sie dazu zu bringen, Talente zu vernachlässigen und viel Zeit und Energie für die Arbeit an ihren Schwächen aufzuwenden, um dort ins Mittelmaß aufzusteigen und dabei gleichzeitig mit ihren Stärken ins Mittelmaß abzusinken. Das führt dazu, dass die Absolventen in vielen Gebieten durchschnittlich sind, zumindest nicht „Peak and Freak“.
Der gesellschaftliche Wunsch ist es offenbar, durchschnittlich und angepasst zu sein, nicht aufzufallen; jede Abweichung von der Norm ist suspekt und unerwünscht, besondere Leistungen werden nicht als solche (an)erkannt.

Doch es geht in diesem Buch nur am Rande um Schule.
Zentral geht es um die Fragen:

Wie bereiten ‚wir‘ uns (als Gesellschaft, als Menschheit) auf die unbekannten Fragen/Probleme, die in Zukunft zu lösen sein werden, vor?
Was sind „Talente“ eigentlich, was ist „Begabung“?
Sind für gute Leistungen (= Erfolge) genetische Dispositionen relevant?
Welchen Einfluss haben Gene, welchen Einfluss hat die Umwelt?

An Hand von Beispielen aus der Tierwelt und der Mechanismen der Genetik zeigt Markus Hengstschläger, wie fatal das Orientieren am Durchschnitt, wie unzulänglich das Reproduzieren von immer Gleichem für eine Gesellschaft ist. Um als Spezies, als Nation, als Gesellschaft das Überleben zu sichern, ist Vielfalt notwendig: niemand kann sagen, welche Eigenschaften, Talente, … in Zukunft hilfreich und wertvoll sein werden – je höher die Variationen, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass jenes Individuum in der Gesellschaft ist, dass rettend sein kann.

Zusammenfassung der Zusammenfassung:
Seine Kernaussagen hat Markus Hengsschläger in seinem Buch am Schluss zusammengefasst.

1.) Was wir wahrnehmen, ist nicht ein „Talent“, sondern der Erfolg (der mit einer bestimmten Fähigkeit erreicht wird). Wichtig ist Markus Hengstschläger in diesem Zusammenhang eine klare Begriflichkeit und er unterscheidet zwischen genetischer Leistungsvoraussetzung (wie z.B.: Muskelaufbau) und der Erbringung einer besonderen Leistung (= Erfolg). Für den Erfolg sind sowohl gute genetische Voraussetzungen („Nature“) als auch eine unterstützende Umwelt („Nurture“) notwendig. Also einerseits gewisse Leistungsvoraussetzungen und andererseits „üben, üben, üben“. Der ‚Talentträger‘ kann sein Talent, seine Leistungsvoraussetzungen, selbst als solches i.A. kaum wahrnehmen bzw. beschreiben. Er wird auf die Frage, wie er das so gut macht, typischerweise antworten: „Ich kann’s einfach.“

2. JEDER Mensch weist individuelle Begabungen auf und jeder Mensch hat das Recht, seine Talente zu ignorieren, also gute Leistungsvoraussetzungen nicht durch das notwendige „üben, üben, üben“ zum Erfolg zu führen.
Und jeder Mensch hat das Recht, fehlenden Leistungsvoraussetzungen zu ignorieren, also eine geringere Leistungsvoraussetzungen durch Begeisterung, „üben, üben, üben“, … zu kompensieren.
Andernfalls ergäben sich eine Reihe freiheitseinschränkender, ethischer Probleme.

3. Jedes Talent kann in der Zukunft wertvoll sein, selbst wenn es heute als wertlos angesehen wird.
Insofern ist es auch heute bereits wertvoll.

4. Die Erhaltung höchstmöglicher Individualität ist das Ziel für eine Spezies, nicht das Erreichen gemeinsamer, durchschnittlicher Fähigkeiten.

5. Schöpferisches Streben nach Neuem ist die einzig sinnvolle Überlebensstrategie (für eine Gesellschaft).

Bei mir ist der Inhalt so angekommen:
Das Buch ist lesenswert: inhaltlich interessant, mit Geschichten und Fallbeispielen aus Biologie und Gesellschaft hinterlegt, hat man das Gefühl, Hengstschläger sitzt einem gegenüber und erklärt euphorischDas besondere Talent: Gene oder 'Üben, üben, üben"? und begeistert seinen Standpunkt, der teilweise persönlich (gefärbt) und subjektiv ist und auch in Frage gestellt werden könnte. Eine kurzweilige Lektüre zu einem schweren Themen.
Etwas lähmend empfand ich, dass sich manche Ideen und die Argumentation dazu im Buch öfter wiederholt als (für mich) notwendig (keine Ahnung, wie oft Elina Garanca, Lionel Messi oder Placido Domingo erwähnt werden und wie oft auf das eine Beispiel mit den Süsswasserpolypen verwiesen wird) – andererseits kamen für mich konkrete Beispiele (aus Biologie und Genetik) zu kurz: eine noch größere Vielfalt an Beispielen hätte dem Inhalt meiner Meinung nach noch mehr Kraft gegeben.

Was nehme ich mir mit:
Für mich wesentlich ist, dass das Buch aus einer weit verbreiteten und im österreichischen Schulsystem organisatorisch festgegossenen begrenzten Sichtweise der egozentrischen Individualität („Ich bin besser als die dumme Masse.“) hin zur erweiterten Sichtweise der altruistischen Individualität („Ich bin anders und ihr seid anders und das ist wertvoll für uns alle.“) führt.

Ich hoffe und wünsche mir, dass Markus Hengstschlägers Buch Wenn die Ziege schwimmen lernt.Entscheidungsträger und Ausführende im ganzen Land, vor allem aber jene, die in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, zur Förderung altruistischer Individualität inspiriert und motiviert.

Das Leben ist schön,
Thomas 🙂

P.S.:  „Wie die Ziege schwimmen lernt“ fasst Hengstschlägers Buch als Metapher für Kinder, Lehrer/innen und Eltern zusammen 😉

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