Ich habe recht, auch wenn ich mich irre

Carol Tavris, Elliot Aronson: Ich habe recht, auch wenn ich mich irre. Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen.

In vielen interessant zu lesenden Beispielen werden fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln in Fallbeispielen erzählt und die Reaktion der ‚Täter‘ darauf kommentiert, nachdem sie die Folgen bzw. die „Wahrheit“ erkennen (hätten) können. Warum wir lieber auf unseren falschen Sichtweisen beharren als zur objektiven Wahrheit oder zu hilfreicherem Handeln zu konvertieren, möchten die Autoren erklären.

Kognitive Dissonanz:
Was macht ein Sektenführer bzw. seine Anhänger, nachdem der angekündigte Weltuntergang doch nicht eingetreten ist? Für den 21. Dezember 1954 wurde das beobachtet: jene, die sich nicht vollständig auf den Weltuntergang eingelassen hatten, gaben ohne viel Aufregung den Glauben an die Sekte auf. Die Gläubigen, die ihr Hab und Gut verschenkt hatten, kamen nach dem ausgebliebenen Weltuntergang zum Schluss, dass sie durch ihr Beten den Weltuntergang abgewendet und so die Welt gerettet hätten (vielleicht stimmt’s ja ;-)).
Kognitive Dissonanz entsteht, wenn in uns eine aktuelle Sichtweise (z.B.: „Ich rauche eine Schachtel täglich.“) und eine neue Erkenntnis (z.B.: „Rauchen ist schlecht für meine Gesundheit.“) in Konflikt geraten und so mein Selbstbild gefährden. Diese Dissonanz erzeugt innere Spannungen, die wir auflösen wollen. Der Weg, das Rauchen aufzugeben, ist möglicherweise schwieriger als Gründe zu finden, warum ich rauche („So schädlich ist es ja gar nicht.“ „Ich kenne jemanden, der ist 100 Jahre alt geworden und hat auch geraucht.“, „Wenn ich aufhöre, nehme ich zu.“ …). Um unsere Identität (mit allen Glaubenssätzen, Werten und Entscheidungen) zu schützen, ignorieren und korrigieren wir auch nachweislich belegbare Sachverhalte.

Mit dem Modell der kognitiven Dissonanz lassen sich einige menschliche Verhaltensweisen erklären, auf den ersten Blick absurd erscheinen.

Die Entscheidungspyramide:
Das vereinfachte Modell der Entscheidungspyramide bedient sich der kognitiven Dissonanz und beschreibt die Manifestation von Einstellungen und Sichtweisen:
Zwei Personen (A und B) mit einer (noch) nicht ganz klaren Einstellung zu einem Sachverhalt (z.B.: Stehlen), stehen vor der Wahl einen € 100,- Schein, der im Büro verlockend herumliegt ungesehen zu nehmen. Beide stehen an der Spitze der Entscheidungspyramide.
A nimmt nun den Schein und steckt in für sich ein. A wird sein Verhalten für sich selbst begründen („Der geht ja niemanden ab“. „Selbst schuld, wer € 100,- herumliegen lässt“, …). Bei einer folgenden ähnlich gearteten Entscheidung wird A sich womöglich gleich verhalten – andernfalls würde er ja seine vorige Entscheidung bzw. sich selbst ‚verraten‘. Kommt A also wieder in die gleiche Situation, so rechtfertigt er sein damaliges Verhalten mit der gleichen Entscheidung und löst damit seine kognitive Dissonanz auf. Das heißt, A hat sich an der Spitze der Pyramide für eine bestimmte Seite entschieden und rechtfertigt mit jedem Schritt, den er die Pyramide hinuntersteigt, seine damalige Entscheidung und legt sich damit fest.
B überlegt vielleicht, lässt den Schein aber liegen. Auch er wird sein Verhalten für sich selbst begründen und bei der nächsten gleichen Entscheidung wird er sich wieder gleich verhalten – andernfalls würde er seine vorige Entscheidung bzw. sich selbst verraten: Er steigt auf der anderen Seite der Pyramide herunter.
Über die Zeit haben sich A und B in ihrer Einstellung zum Stehlen maximal weit voneinander entfernt.
Ein dramatisches Beispiel dazu ist das Milgram-Experiment: kein Teilnehmer hätte (wahrscheinlich) einen tödlichen Stromstoß verabreicht, wenn er das gleich nach der ersten Frage hätte tun sollen. Durch die Entscheidung für das Experiment an der Spitze der Entscheidungspyramide kommt er Schritt für Schritt weiter von seiner Grundhaltung weg. Würde er mitten drinnen abbrechen, müsste er alle seine vorher gemachten Entscheidungen revidieren.

Mit kognitiver Dissonanz und der darausfolgenden Entscheidungspyramide gehen die Autoren schließlich auf folgende verschiedene Aspekte ein:

Vorurteile und Stereotypen:
Auch bei Vorurteilen werden sachliche Argumente umgedeutet, um das eigene Vorurteil aufrecht zu halten können. Hier kommt noch „Gruppendenken“ dazu: Unterschiede innerhalb einer Gruppe werden nivelliert, Unterschiede zwischen Gruppen werden überhöht.
Und es kann gezeigt werden, dass Gruppenbildung sehr schnell und auf Grund der unscheinbarsten Merkmale erfolgt. So entstehen Glaubenssätze über Unterschiede zu den unterschiedlichen Gruppen und Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppen, die nur durch Verneinung der feststellbaren Wirklichkeit aufrechterhalten werden können.

Erinnerung und Gedächtnis:
Im Rückblick werden Erinnerungen so umgedeutet, dass sie unserer heutigen Sichtweise auf uns selbst entsprechen (um kognitive Dissonanz aufzulösen). Das kann auch dazu führen, dass objektive Fakten in der Erinnerung ganz anders aussehen. Als extreme Beispiele dazu führt Carol Tavris Menschen an, die fest der Überzeugung sind, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Obwohl sich die Beschreibungen der Rahmenbedingungen ihrer gefühlten Erlebnisse auch psychisch-medizinisch erklären ließen, beharren sie auf ihrer Entführungserklärung.
Auch die Erinnerung an die eigene Kindheit oder Pubertät kann durch die aktuelle Selbsteinschätzung nachträglich im Gedächtnis verändert und als reale Erinnerung abgelegt werden, z.B.: „Ich bin gegen den Willen meiner Mutter von zu Hause ausgezogen um zu studieren“, wohingegen über Briefe belegbar ist, dass die Mutter viel Unterstützung geben musste, damit der Sohn den Schritt wagt und auszieht. Natürlich passiert das unbewusst und schleichend.

Amerikanisches Justizsystem, ungerechtfertige Mißbrauchsanschuldigungen, Beziehungen:
In weiteren Kapiteln und Beispielen erklärt Tavris von außen nur schwer nachvollziehbares Verhalten mit Hilfe der  Selbstrechtfertigung, die notwendig ist, um kognitive Dissonanz aufzulösen. Vom Ermittler, den seine einmal getroffene Entscheidung für einen Schuldigen dazu führt, Unschuldsbeweise und entlastende Zeugenaussagen zu ignorieren, DNA-Analysen abzulehen und sogar selbst Illegales zu tun, um seine eigene Sichtweise zu rechtfertigen. Psychiater, die Missbrauchsfälle aus Kinderaussagen konstruieren und nicht in der Lage sind, ihre Sichtweise an der Wirklichkeit zu überprüfen.
Interessant natürlich auch das Feld der Beziehungen: einerseits die Rechtfertigung, in einer schon schädlich gewordenen Beziehung zu verbleiben, andererseits die veränderte Sichtweise auf die Beziehung nach einer Trennung.

Den Abschluss bildet ein Zitat von Konfuzius, das hier inhaltlich widergegeben ist:

Ein großer Staat ist wie ein großer Mensch:
Wenn er einen Fehler macht, erkennt er diesen Fehler.
Wenn er ihn erkannt hat, gibt er ihn zu.
Wenn er ihn zugegeben hat, korrigiert er ihn.
Jene, die ihn auf Fehler aufmerksam machen, sieht er als seine wohlwollendsten Lehrer an.

oder

Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.

Insgesamt fand ich das Buch interessant und gut zu lesen. Teilweise für mich fast zu USA-lastig in den Beispielen – aber trotzdem gut nachvollziehbar.

In diesem Sinne versuche ich mal, Selbstschutz und Selbstrechtfertigung wegzulassen
und offen die Realität anzunehmen – ohne Beurteilung und ohne moralische Bewertung.