Andreas Müller:
Mehr ausbrüten, weniger gackern
Denn Lernen heisst: Freude am Umgang mit Widerständen. Oder kurz: Vom Was zum Wie
Wie soll die Schule der Zukunft aussehen?
Falls schülerzentriert eine deiner Antworten ist, dann ist das hier beschriebene und seit mehr als 15 Jahren praktisch umgesetzte Konzept ein ausgezeichnetes Model.
Einstieg
In den Kapiteln „Das Gelbe vom Ei“ und „Eine kleine Auslegeordnung“ erhält der Leser einen kurzen Überblick über Lerncoaching und lernrelevante Faktoren (LRF). Das sind die organisatorisch-didaktischen Kernstücke des Instituts Beatenberg.
LRF 1: Orientierung bieten
„Wer in die falsche Richtung geht,
dem hilft auch Rennen nichts.“
Die zentrale Frage ist hier: wo steht der Lernende, welches Wissen hat er bereits, welche Kompetenzen möchte er ausbauen, was muss er bis zur Reifeprüfung, bis zum Arbitur können bzw. sich erarbeiten.
LRF 2: Auseinandersetzung
„Der Mensch soll lernen.
Nur die Ochsen büffeln.“
Andreas Müller stellt hier die zentrale Frage nach dem Wie des Lernens:
„Wie lerne ich Beistrichregeln?“ oder
„Wie lerne ich Bruchrechnen?“ oder …
Die Frage nach dem Wie ist die didaktische Kernfrage, denn das Wie bestimmt letztendlich auch das Was, das gelernt wird.
Ein Beispiel: Wenn Schüler die Bestrichregeln „zum Lernen“ bekommen, diese dann brav lernen und aufgesagen können (= Wie lernen), dann haben sie gelernt auswendig zu lernen, Vorgegebenes wiederzugeben, sinnentleertes Lernen zu akzeptieren, Aufträge unhinterfragt zu erfüllen (= Was gerlernt wurde). Dass ein Schüler damit die Beistrichregeln beherrscht und die Beistriche nun richtiger setzt als vorher, ist jedoch unwahrscheinlich.
Sehr gerne wird über das Was des Lernens diskutiert, über „das Objekt des Lernens“. Die eigentliche didaktische Frage des Wie kommt zu kurz bzw. wird gar nicht gestellt. Da ein Kompetenzerwerb ausbleibt, werden schulische Unterrichtseinheiten üblicherweise mit einem Erledigungsnachweis enden (der Stoff wurde durchgemacht, der Inhalt wurde abgeprüft – und ist damit erledigt, selbst wenn der Inhalt nicht gelernt wurde).
Dieser Erledigungs-nachweis wird in Beatenberg durch einen Lernnachweis ersetzt.
Die Lernaufgabe ist abgeschlossen, wenn der Schüler sagen kann:
„Jetzt kann ich es„.
Weitere Themen dieses Kapitels sind „persönliche Herausforderungen“ und „persönliche Lernziele formulieren“.
LRF 3: Arrangements
„Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden. Man muss sich auch gehen lassen“
Ist das Wie des Lernens bezogen auf die Lernaufgabe geklärt, führt der Weg automtisch zur nächsten Ebene: Wie ist die Raum-, Zeit- und Sozialstruktur, in der Lernen passieren darf und kann, in der Lernen schließlich passiert.
Denn das ist die Voraussetzung für eine Individuali-sierung, die im Institut Beatenberg so formuliert ist:
„Wir wollen jedem Lernenden seine eigene Schule bieten„.
Wesentlich ist das neben individueller Lernformen auch kooperative Lernformen ermöglicht werden, was üblicherweise im schulsichen Kontext nicht passiert.
Die möglichen Arrangements sind grundlegend gegliedert in:
- Offene Arbeitsformen
vom Schüler selbst(verantwortlich) wahrgenommes Arbeiten bzw. Lernen - strukturierte Bereiche
vom Lehrer verantwortete Kurse, Angebote, Lernimpulse, Ateliers, Workshops, Intensivkurse, … - Wahlbereiche
sportlich, kreative, musische und handwerkliche Tätigkeiten
Hinweis: Zur Umsetzung ist es notwendig, dass die Lehrer/innen eine Präsenzzeit in der Schule haben, anstatt der sonst üblichen schulischen Stundengeberei.
LRF 4: Evaluation
„Man sollte nicht den Fuchs zum Bewachen des Hühnerstalls abdelegieren.“
Alternativen schulischen Ansätzen wird häufig unterstellt, nicht leistungsorientiert zu sein, weil auf (extrinsichen) Leistungsdruck und auf Notenbeurteilung verzichtet wird. Müller argumentiert und beschreibt hier Evaluation und Reflexion der eigenen Leistung als geeignetere Methode der Leistungsbeurteilung, weg von der Selektion hin zum Fördern.
Ein Zitat von Peter Bichsel (ehemaliger Lehrer) soll das Problem Leistungsfeststellung und der Beurteilung mit Ziffernnoten veranschaulichen: „Hätte ich meine Schüler zu kritischen Menschen gemacht, zu Menschen, denen Entscheide schwer fallen, zu Menschen, die nicht nur in den Kategorien richtig und falsch denken, sie wären alle auf ihrem weiteren Schulweg gescheitert.“
LRF 5: Interaktion
„Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Nest sitzen und Eier brüten?“
Schulische Lernprozesse werden von den vorherrschenden Interaktionsmustern bestimmt: üblicherweise beansprucht den größten Teil der schulischen Lernzeit die Lehrperson, die Lernenden hören nur zu. D.h. die meisten Lernprozesse beschränken sich auf zuhören oder/oder zusehen.
Müller fordert, dass sich der Lehrer (mit seinem Ego) zurücknimmt und im Sinne eines Lern-Coaches Lern- und Arbeitsprozesse beim Lernenden in Gang bringt und diese konsequent auf Kurs hält.
LRF 6: Lernort![Lernraum einst und jetzt](https://thomaseibel.wordpress.com/wp-content/uploads/2013/11/lernraum-einst-und-jetzt.jpg?w=195&h=532)
„Lernen kann man überall.
Und man tut es auch.“
Wenn vorne der Lehrertisch steht mit der Wandtafel dahinter und davor die Tischreihen, dann ist damit das Verhalten der Lernenden und der Lehrenden weitgehend vorgegeben. „Der Raum ist der dritte Pädagoge“ (neben den Lehrern und Mitschülern) sagte bereits Maria Montessori und auch das wird im Institut Beatenberg achtsam umgesetzt: offene ‚Lernbüros‘, Ateliers, Aussenbereiche usw. sind vorhanden. Aber auch der Zustand der Materialien und Möbel ist wichtig und gibt Aufschluss über den Geist des Lernorts.
Grundbedingungen
Die nachfolgenden Kapitel beziehen sich auf grundlegende Voraussetzungen für das Verständnis und die Umsetzung einer schülerzentrierten Pädagogik:
- das zu Grunde liegende Menschenbild
- das Rollenverständnis des Lehrers
- das Verständnis über den Vorgang des Lernens an sich
- das Funktionsverständnis: die Form soll aus der Funktion, dem Nutzungszweck, abgeleitet werden
Wende
Abschließend brütet Müller Gedanken zu „Die Wie-Wende“ aus, also darüber, wie eine Veränderung im Schulbereich in Gang gesetzt werden kann.
Was nehme ich mir mit
Das Buch war für mich leicht lesbar, auch wenn der teilw. telegramm-artige Stil anfangs gewöhnungs-bedürftig war. Es ist durch die Zeichnungen, Diagramme und die gute Struktur sehr übersichtlich und durch die Karikaturen auch vergnüglich zu lesen.
Als Lehrer finde ich mich in einer schulisch strukturierten Umgebung mit vorgegebener Inhalts-, Zeit- und Raumstruktur wieder und es stellt sich mir die Frage, was sich nun von den im Institut Beatenberg umgesetzten Überlegungen auch von mir umsetzen lässt.
- Wesentlich finde ich die Grundbedingungen zu verinnerlichen, allem voran das positive Menschenbild.
- Primär führt Schüleraktivität zu Lernerfolgen, sekundär ist Lehreraktivität dafür verantwortlich. Es stellt sich somit die Frage: Wie kann ich als Lehrer zielgerichtete Schüleraktivitäten evozieren?
- Interessant sind dazu die beschriebenen Werkzeuge z.B.: die für das selbstsändige ‚Erfinden‘ von Lernaufgaben von Andreas Müller entwickelte Karteibox „Lernerfolg ist lernbar„), Kompetenzraster, Smarties, Layouts, Roadmaps, …
Ich bin motiviert, sie auszuprobieren. - Als Lehrer muss ich mich zurücknehmen und die Arbeit den Schülern überlassen.
- Der Schüler benötigt Orientierung, damit er selbstverantwortlich lernen kann.
- …
Auf dem Weg zur Umsetzung eines schülerzentrierten Unterrichts ist das Buch ein hilfreicher Wegweiser.
Noch ein Wort zum Autor
Andreas Müller, ist Besitzer und Direktor des Instituts Beatenberg, einer hoch innovativen Schule für die Sekundarstufe (5. – 10. Schuljahr) in der Schweiz. Hier noch ein Video über maßgeschneidertes schulisches Lernen von Andreas Müller.
Das Leben ist schön 🙂
und ab und zu auch anstrengend ;-),
Thomas