Vereinbarungskultur an Schulen

Handreichung von Christiane LeimerDer Titel der neuesten Handreichung des ÖZEPS löst mein Erstaunen aus: „Vereinbarungskultur an Schulen“! Ja wie denn? Wo denn? Mein Schulalltag wird durch einen vorgegebenen Stundenplan bestimmt: Beginn 745, Raumnummer 15, Gegenstand Elektronik, Klasse 1A. Praktisch alle Gebarungen in Bezug auf meine Arbeit, Urlaub, Gehalt, Unterrichtsort, Lehrinhalte etc. sind ein durch Gesetze, Verordnungen, ausgesprochene und unausgesprochene Schulregeln und kollegiale Befindlichkeiten markiertes Verhaltensterritorium. Der Umgang mit den Schüler/innen ist gesetzlich eng geregelt: Wo bleibt denn da freier Raum für Vereinbarungen? Und hat denn jemand während meiner Jahre als Lehrer jemals eine Vereinbarung mit mir getroffen?

Mit den Schüler/innen sind Vereinbarungen nicht notwendig und meine Vorgesetzten finden sie nicht notwendig. „Quer“, also zu Kolleg/innen, fällt es ja leichter, Vereinbarungen zu treffen: a) sind sie vertrauenswürdig und alt genug, sich daran zu halten, und b) ist das die einzige Möglichkeit, ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Hier habe ich weder formale Autorität, noch bin ich einer formalen Autorität unterworfen. Damit sind auch schon die beiden „schwierigen“ Richtungen für Vereinbarungen angesprochen: „nach oben“ und „nach unten“. In einem hierarchischen System sind Vereinbarungen per se nicht notwendig, weil Verordnungen, Anweisungen, Gesetze und Druck als „Motivationsmittel“ (scheinbar) reichen.

Soll doch eine gelebte Vereinbarungskultur entwickelt werden, so setzt dies bestimmte Werte und Haltungen voraus: Christiane Leimer sieht diese in Gleichwürdigkeit, Beteiligungsmöglichkeiten, Transparenz, Selbstbestimmung und dem Zulassen von Unterschieden. Dazu schreibt sie: „Bei einer ungleichen Machtverteilung, wie es in einer hierarchischen Struktur von Schule der Fall ist, bietet Gleichwürdigkeiteinen konstruktiven Ansatz, um zu gemeinsamen Vereinbarungen zu kommen.“ Als persönliche Voraussetzungen für gelebte Vereinbarungskultur nennt sie Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen, Team- und Konfliktlösefähigkeit, soziale Verantwortung, Willen zu offener Kommunikation und zu Kooperation, Zuverlässigkeit, Eigeninitiative, Entscheidungsbereitschaft, Erkennen eigener Vorurteile, Normverständnis, Werteorientierung …

Wenn ich nun auch noch die Definition von „Vereinbarung“ berücksichtige, wird mir vollends klar, warum hierarchisch „höher Stehende“ auf eine Vereinbarungskultur zu Gunsten schneller Anweisungen verzichten: „Eine Vereinbarung ist eine bindende Abmachung … und dient dazu … ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Kennzeichen einer Vereinbarung ist, dass sich alle beteiligten Personen (von sich aus, freiwillig) damit einverstanden erklären, das Vereinbarte einzuhalten. […] Eine nicht eingehaltene Vereinbarung hat als Konsequenz, dass das gemeinsame Ziel nicht erreicht wird. Das Wesen einer Vereinbarung schließt Sanktionen aus.“ Hm, damit könnten einige in Schulen verwendete Verhaltensvereinbarungen als falsch etikettierte Verhaltensverordnungen entlarvt werden.

Vor allem, wenn der vorgeschlagene Prozess für das Treffen von Vereinbarungen mitberücksichtigt wird: Vorbereitungsphase – Individuelle Klärung (Ich-Phase) – Austausch mit allen Beteiligten (Du-Phase) – Gemeinsames Ziel (Wir-Phase) – Formulierungsphase – Selbstreflexionsphase – Fixierungsphase – Reflexionsphase. Möglicherweise pocht bereits die Frage im Neocortex des Lesers: Wozu überhaupt Vereinbarungen treffen, wo bis jetzt mit einfachen Anweisungen (und entsprechendem Druck) das gleiche Ziel schneller erreicht werden kann? Christiane Leimer verweist auf das nachhaltige Erreichen von längerfristigen Zielen: Höhere Arbeitsmotivation, Inklusion wird ermöglicht, Gewalt (und Aggression) nehmen ab, wohingegen Zufriedenheit und Verantwortungsbereitschaft steigen, Rechte und Pflichte werden akzeptiert, der Raum für Lernen und respektvollen Umgang wird aufgemacht und schließlich wird Demokratie gelernt und gelebt.
Das heißt, in Summe bringt das Entwickeln einer Vereinbarungskultur an Schulen die Voraussetzung für einen gemeinsam positiv erlebten Schulalltag mit hoher Motivation und Leistungsbereitschaft aller Beteiligten.
Umkehrschluss: Lässt bei Schüler/innen die Motivation und Leistungsbereitschaft zu wünschen übrig, so kann dem durch eine gelebte Vereinbarungskultur (ausgehend von den Lehrer/innen) entgegengearbeitet werden. Gleiches gilt natürlich für die Zusammenarbeit zwischen Direktor/innen und Lehrer/innen bzw. für die Zusammenarbeit aller Schulpartner.Dem Theorieteil folgt ein umfangreicher Praxisteil mit konkreten Übungen– ein Schatz für alle jene, die in Richtung gelebte Vereinbarungskultur unterwegs sind. Insgesamt gebe ich der Handreichung das Prädikat „Sehr lesens- und umsetzungswert“ – zumindest für alle, die im Schulbetrieb tätig sind.

Und ja, das Leben ist schön :-),
meint Thomas


Theorieteil
Kapitel 1: Vereinbarungen in der Schule – wozu?
Kapitel 2: Was sind Vereinbarungen?
Kapitel 3: Vereinbaren – eine Frage des Alters?
Kapitel 4: Was fördert Vereinbarungskultur?
Kapitel 5: Welche Fähigkeiten spielen eine Rolle?
Kapitel 6: Unter welchen Voraussetzungen ist vereinbaren möglich?
Kapitel 7: Was ist bei Vereinbarungen zu beachten? 10 Kriterien
Kapitel 8: Wie gelingt das Treffen von Vereinbarungen?
Kapitel 9: Wie mit Widerstand umgehen?

Praxisteil:
Kapitel 10: Werte und Haltungen fördern
Kapitel 11: Lernfelder für personale und soziale Kompetenzen
Kapitel12: Hilfreiche Strukturen für das Treffen von Vereinbarungen