Die Frequenzen

Clemens J. Setz: Die Frequenzen

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Inhalt

Was ist bloß der Inhalt des Romans?
Es geht jedenfalls um zwei Jugendliche, die als Hauptdarsteller dienen könnten: der eine heißt Walter, der andere ist Alexander (der ich-Erzähler). Beide waren Schulkollegen, haben sich aber aus den Augen verloren – auch deshalb, weil sie keine Schulfreunde waren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Sprung in die Erwachsenenwelt (noch) nicht geschafft haben und mit ihren Herkunftsfamilien ringen:

winter_autoAlexander wurde von seiner überfordert dahinvegetierenden Mutter alleine großgezogen, seit sein Vater eines Tages einfach davonfuhr und die beiden in einer verlassenen Winterlandschaft zurückließ.

Familie am TischWalter, dessen erfolgreicher Vater Vorstellungen über ihn hat, die er wohl nie wird erfüllen können, die er jedoch seiner Familie bemüht vortäuscht.

Beide Adoleszenten sind intelligent, jedoch gefüllt mit Selbsthass, Frustration, Lebensüberdruss, Ziellosigkeit, ‚Egalheit‘, Aggression – einfach so richtig pubertär.
Und es passiert ein Mord an einer Frau – mehr wird hier nicht verraten.

Form

lupe-schwebt-über-menschenUnd dann gibt es ‚Nebendarsteller‘, die auftauchen und sich in den Mittelpunkt schieben, als würden sie mit einer Lupe unwirklich vergrößert, herausgehoben, als ginge es im ganzen Roman nur um sie.
Es ist, als hätte Setz nicht gewusst, wie das Leben der Figuren an den beschriebenen Tagen weiterlaufen würde und es daher für notwendig erachtet, auch ihnen (sicherheitshalber) ausreichend Raum zu geben: man weiß ja im vornherein nicht, auf wen oder was es am Ende wirklich ankommen wird.

Uljana mit Trichter

Doch nicht nur Figuren (bzw. ein Hund), auch Handlungsstränge fluten in den Vordergrund und verebben wieder rückstandslos, so dass ich mich fragen musste, ob ich nicht ein wichtiges Detail übersehen bzw. in den mehr als 700 Seiten vergessen habe. Andererseits habe ich Querverbindungen und Verweise gefunden, die in scheinbaren Nebensächlichkeiten das Handlungsnetz knüpfen, die Kapitel verbinden, die Geschichte aufbauen.

Wesentlich ist in ‚Die Frequenzen‘ jedenfalls die Art und Weise, wie Setz die Welt aufspannt, wie er Stimmungen beschreibt, Sachverhalte erklärt, die Kapitel parallel führt, zeitlich schachtelt, Blickwinkel verändert, Aussagen formuliert, welche Form er wählt. Oftmals haben mich Setze schmunzeln lassen, betroffen gemacht, überrascht.

Auszüge

Die Beschreibung eines Pflegers im Altenheim, in dem Alexander arbeitet, liest sich so:

„Max ist etwa dreißig, trägt eine Glatze, spricht gern in Ellipsen und hat die Manieren eines nihilistischen Militärarztes.
Max GlatzkopfEr stiehlt gerne Aschenbecher aus Restaurants und baut aus ihnen babylonische Türme aus dunklem Glas. Er wettet auf den Ausgang von Nahost-Friedensverhandlungen wie andere auf Sportergebnisse. Beim Gehen rempelt er alles an, was ihm in den Weg kommt, sogar parkende Autos. Kinder und Tiere meiden ihn.“

Gedanken von Walter, in einem Kleidergeschäft:

„Schaufensterpuppen sind dazu da, uns an den Anblick abgetrennter Köpfe und Gliedmaßen zu gewöhnen; damit wir nicht jedes Mal schreiend davonlaufen, wenn wir sie im wirklichen Leben antreffen.

Schaufensterpuppe kaputtVerrenkungen, Amputationen, verstümmelte Unfallopfer – wir denken dann automatisch an Mode, die neuesten Herbstfarben und die beruhigende Hintergrundmusik in einem Kaufhaus.“

oder Alexanders Denken, während er für eine Prüfung lernt:

„Nichts kann einen universitären Betrieb für lange Zeit aufhalten. Er hat seinen Teil an der Ewigkeit vor langer Zeit abgemessen. Mathematiker schraffieren weiter kleine Intervalle unter der Gauss’schen Glockenkurve, auch wenn im Nebengebäude geschossen wird. Studenten rekeln sich in der Wiese und prüfen sich gegenseitig, am Nachmittag gehen sie demonstrieren. Ein Bild ewiger Jugend und Gleichgültigkeit.“

Stimmung

Das Buch hat mich fasziniert zurückgelassen –
fasziniert von der Sprache, dem genialen Aufbau, der schrägen Sichtweisen und Wirklichkeitsinterpretation, der Familienverstrickungen.
Das Buch hat mich frustriert zurückgelassen –
frustriert von der vermittelten Stimmung, Aussichtslosigkeit und Belanglosigkeit des Lebens.

Das Leben ist schön – auf der richtigen Frequenz :-),
Thomas