Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Haruki Murakami:
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazakihttp://www.amazon.de/Die-Pilgerjahre-farblosen-Herrn-Tazaki/dp/3832197486/ref=tmm_hrd_title_0

Herr Tsukuru Tazaki baut als Ingenieur Bahnhöfe,
ist – zu seinem Job passend – relativ emotionslos und hatte mit seinen sechsundreißig Jahren noch keine wirklich feste Beziehung. Nun trifft er Sara.
Ihre anfänglich oberflächliche Beziehung wird tiefer und Tsukuru offenbart ihr sein Trauma, dass ihn wohl unbewusst seit seiner Jugend begleitet:
er wurde vor sechzehn Jahren überraschend, ohne Angabe von Gründen aus seiner Clique ausgeschlossen, dem damaligen emotionalen Mittelpunkt seines Lebens. Der Kontakt zu ihm wurde von seinen Freunden vollständig abgebrochen. Tsukuru versinkt daraufhin in sich selbst und lebt ein halbes Jahr ausschließlich von und für seine Gedanken an Selbstmord.

lisztfaceÜber den Schwimmsport findet Tsukuru zwar einen Studienfreund, der ihm aus seiner Lethargie helfen kann, ihn schlussendlich jedoch genauso überraschend verlässt und den Kontakt zu ihm abbricht, wie damals seine Freunde.
Tsukurus emotionale Abgestumpftheit und sein Eremiten-Dasein verfestigen sich mehr und mehr.
Als Musik, die die Stimmung von Tsukuru widergibt, wählt Murakami die „Le Mal du Pays“ von Franz Liszt.

Sara hält zu Tsukuru trotz der emotionalen Nähe Distanz und rät ihm, seine Jugendfreunde, die er in all den Jahren nicht wieder gesehen hat, aufzusuchen und die damaligen Vorfälle zu klären:
um ihrer Beziehung, der zwischen Tsukuru und Sara, willen.

farben additivSo macht sich Tsukuru Tazaki auf die Reise und trifft Akamatsu (‚Rotkiefer‘) wieder, der jetzt als Autoverkäufer arbeitet. Oumi (‚blaues Meer‘) ist Chef eines Unternehmens, das Seminare für Arbeitskräfte anbietet. Tsukuru erfährt, dass Shirane (‚weiße Wurzel‘) tot ist; sie hatte als Klavierlehrerin gearbeitet. Kurono (’schwarzes Feld‘) hat nach Finnland geheiratet und erzeugt mit ihrem Mann gemeinsam Keramiken. Tazaki (‚machen, schaffen‘) hat als einziger einen farblosen Namen – und fühlt sich entsprechend leer, unvollständig.

Die (Pilger-)Reise in seine Vergangenheit öffnet Tsukuru den Blick auf Zeit und Entwicklung, auf das Leben und hilft ihm, seinen Weg für die Zukunft zu klären. Sein Wille, mit Sara eine feste Beziehung einzugehen, schärft sich.
Ob Tsukuru und Sara letztendlich ein Paar werden, wird an dieser Stelle nicht verraten.

In der Nacht im Meer alleinEs gibt insgesamt viel an Innenschau: Tsukurus Gedanken, die seine Wandlung vom als sechzehnjähriger entwicklungsmäßig steckengebliebenen Jugendlichen zum Mann begleiten, von dem ziellos im kalten, dunklen Meer Treibenden zum sein Leben Gestaltenden …
Oder seine Spekulationen über die Gründe für seinen Ausschluss aus der Clique.

Einige Nebenerzählstränge ergeben sich durch das Zusammentreffen Tsukurus mit seinen früheren Freunden, die ihre Biographie und Weltsicht offenbaren: es zeigt sich, dass das, was früher eine so harmonische Einheit von fünf Jugendlichen war, sechzehn Jahre später in komplett unterschiedliche Richtungen entwickelte Individuen sind,jazzpianist
sie sich wenig zu sagen haben, sich aber nach wie vor emotional verbunden fühlen.
Eine der wenigen (fast) unabhängigen Nebenerzählungen im Buch ist die Geschichte um den Jazzpianisten, der sich dem baldigen Tod geweiht hat: sie passiert in einer anderen Erzählebene (es erzählt der Studienfreund, der sie von seinem Vater hat) und bringt etwas an Magischem ein, bringt Raum für Spekulationen – vor allem die Fakten über Polydaktylie und deren Verwendung in der Geschichte haben mich fasziniert.

Das Buch ist voll schöner Texte, Erkenntnisse, Weisheiten, Gleichnissen … zu Liebe, zu Freundschaft, zu Verrat und Vergebung, zu Reifung, zu Leben allgemein. Es ist (wieder) einiges an Symboliken eingebaut, die sich vermutlich im japanischen Original und für Kenner der japanischen Kultur klarer darstellen (ich vermute, ich habe nicht alles verstanden).

haruki_murakami_bday_imageIch empfehle das Buch gerne – wenn auch nicht das spannendste und faszinierendste von Haruki Murakami, so doch eines seiner wärmsten.

Das Leben ist schön,
Thomas 🙂


Anmerkung
: Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern gehört. Für mich war die Stimme von Wanja Mues sehr angenehm zu hören. Dort jedoch, wo er ‚interpretiert‘ hat, seine Stimme verändert, an die Personen angepasst hat, war ich durch die Einseitigkeit der Interpretation eher enttäuscht – nicht jeder im Buch gesprochene Satz muss unsicher, vorsichtig, fragend, hauchig hilflos klingen.
Als mein erstes Hörbuch war es spannend wahrzunehmen, wie sehr Stimme, Betonung und Tonfall von Wanja Mues das Gehörte bildhafter machen konnten, jedoch auch Widerstand hervorriefen.
Das nächste Buch werde ich wieder selbst lesen …

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