Lernen sichtbar machen

Lernen sichtbar machenVisible Learning: John Hattie Lernen sichtbar machen: Wolfgang Beyel und Klaus Zierer Prof. John Hattie hat alle (ihm zugänglichen) quantitativen, englischsprachigen Metastudien zum Thema ’student achievement‘ analysiert und die Ergebnisse in diesem Buch zusammengefasst. Ziel Hatties ist es, evidenzbasiert herauszufinden, was die Lernleistung von Schüler/innen wirklich, wirklich beeinflusst.

Die Verantwortung des Lehrers

Hattie kommt zum Schluss

„What teachers do, matters“.

Und das, obwohl 50 % der Schülerleistung vom Schüler selbst abhängen und die Varianz durch die Lehrperson mit ca. 30 % weit weniger ausmacht.Hattie - Anteil an Student Achievement 02 Hatties Argument ist, dass die Disposition des Schülers, wenn er bereits in der Schule sitzt, schwer beeinflussbar ist, die Lehrperson jedoch sehr wohl in die Verantwortung für 30 % der Lernleistung genommen werden kann und muss. Vereinfacht und plakativ ist dieser Sachverhalt so ausgedrückt: ein sehr guter Schüler erreicht bei sonst ausgesprochen schlechten Bedingungen 50 von 100 Punkten bei einem Test, wohingegen ein Schüler mit sehr geringen Lernvoraussetzungen unter diesen Rahmenbedingungen nur 0 Punkte schafft. Wenn der sehr gute Schüler nun auch noch einen sehr guten Lehrer hat, so erreicht er bei sonst sehr schlechten Rahmenbedingungen 80 Punkte, der Schüler mit sehr geringen Lernvoraussetzungen immerhin noch 30 Punkte.

Einflussfaktoren und statistisches Werkzeug Effektstärke d

Dass der Lehrer zählt, ist bereits ein Ergebnis der Zusammenfassung von Detailergebnissen: Hattie extrahierte aus Metastudien einzelne Einflussfaktoren auf die Lernleistung. Die Größe des Einflusses quantifiziert er mit Hilfe einer statistischen Methode, er berechnet die Effektstärke d. Effektstärkend gibt bei Hattie an, um wie viel mehr Punkte eine ‚Experimental‘-Gruppe bei einem standardisierten Test erzielt als die (herkömmlich geführte) Kontrollgruppe. Das ‚Experiment‘ bzw. der Einflussfaktor kann beispielsweise eine kleinere Klassengröße, Computereinsatz im Unterricht, Hausaufgaben, Lehrerfortbildung, Menge des Fernsehkonsums, Leseprogramme, Frühförderung, … sein. Die Einflussfaktoren werden nun entsprechend ihrer Effektstärke sortiert und ergeben so das ‚Hattie-Ranking‘. Alle Effektstärken haben einprägsame (englische) Bezeichnungen – das macht es jedoch auch notwendig, genauer hinzusehen, da teilweise

  • ein Transfer auf mitteleuropäische Schulsysteme nicht direkt möglich ist (z.B. retention, acceleration, phonic instruction, college halls of residence, …),
  • wichtige Zusatzinformationen (Moderatorvariablen) einer Durchschnittsbildung zum Opfer fallen (z.B. school size, homework, family structure, mobility, …) oder schlicht
  • die englische Bezeichung nicht das meint, was augenscheinlich wäre (z.B. direct instruction, micro teaching, open vs. traditional, mobility, …).

Hattie-Meter und Hinge Point

Die Effektstärke stellt Hattie grafisch als Zeiger im Hattie-Meter dar: senkrecht ist in nebenstehender Abbildung der Durchschnittswert der Effektstärke d über alle Einflussfaktoren aufgetragen;Hattie-Meter dieser liegt bei d ≈ 0,4. Für Hattie ist das der Hinge Point (‚Umschlagpunkt‘). Denn selbsterklärend wirken Maßnahmen mit einer Effektstärke von d > 0,4 überdurchschnittlich gut (desired effects), jene mit d < 0,4 jedoch nur unterdurchschnittlich. Negative Effektstärken (reverse effects) weisen auf eine Abnahme der Lernleistung hin, wenn dieser Einflussfaktor angewandt wird. Das sind z.B.: Sitzenbleiben, Schulwechsel, lange Ferienzeiten, massiver Fernsehkonsum. Als Vergleichsgröße sind die ‚developmental effects‚ und ‚teacher effects‚ eingetragen, also die Steigerung der Lernleistung durch die gewöhnliche Entwicklung der Kinder, und die Steigerung, die in einer durchschnittlichen Schule mit durchschnittlichen Lehrer/innen in einem Jahr im Durchschnitt erreicht werden.

Hinge Point und Selbstwahrnehmung der Lehrer/innen

galerie301John Hattie meint plakativ: Faktoren, deren Einfluss auf die Lernleistung unter dem Durchschnitt liegt, sind uninteressant; das kann jeder. Im Gegensatz dazu erleben sich Lehrer/innen (verständlicherweise) bereits dann als wirkungsvoll, auch wenn sie weit unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielen – denn was sie jedenfalls wahrnehmen ist eine Effektstärke größer 0 (was zu erreichen problemlos möglich ist). Lehrer/innen haben keinerlei Anhaltspunkt darüber, wie groß ihre Wirkung bezüglich der Lernleistung ihrer Schüler/innen tatsächlich ist: jeder noch so kleine Lernfortschritt  wird als Erfolg wahrgenommen. Lehrer LämpelHattie fordert daher

Visible Learning!
Lernprozesse sichtbar machen
für Schüler und Lehrer.

Oder als Aufruf ausgedrückt:

Lehrer, seht eure Tätigkeit durch die Augen der Lernenden.

Oder nochmals anders fordert
er Lehrer/innen auf:

Know Thy Impact!
Wisse um deine Wirkung!
Kenne deinen Einfluss!

Hinge Point und schulpolitische Entscheidungen

Als Entscheidung für schulpolitische Maßnahmen muss klarerweise evidenzbasiert vorgegangen werden muss. Doch nicht alleine die Effektstärke d darf herangezogen werden, sondern auch der dahinter steckende Zeitaufwand für die Lehrperson, den Schüler, die Gesellschaft und der finanzielle Aufwand ist zu berücksichtigen.
Handlungsbedarf besteht jedenfalls bei jenen Maßnahmen die zwar teuer sind,
jedoch nichts oder nur wenig bewirken (z.B.: Sitzenbleiben, Co-Teaching, Gendering, interne Differenzierung, geringe Klassengröße, leistungshomogene Klassen, …) –
hier liegt die Effektstärke d durchwegs kleiner ≈ 0,2, also weit unterdurchschnittlich.
Effektstärke vs AufwandAndererseits können auch unterdurchschnittlich wirkende Maßnahmen, die einfach und ohne ‚Nebenwirkungen‘ durchzuführen sind, lohnend sein
(z.B.: Unmittelbarkeit der Rückmeldung, Bewegung und Entspannung, Hausübung unter bestimmten Rahmenbedingungen, Testtraining, …).

Öffentliche bzw. politische Diskussionen drehen sich jedoch hauptsächlich um Punkte, die nur wenig Effektstärke zeigen. Diskussionen über schulische Maßnahmen (z.B. Klassengröße, Hausübungen, …) gehen i.A. von Überlegungen des gesunden ‚Menschenverstandes‘ aus und werden mittels eigener Erfahrungen und Meinungen begründet, die nicht quantifiziert sind und auch nicht anderen, möglicherweise wirkungsvolleren Maßnahmen gegenübergestellt werden.

Kritik an der Hattie-Studie

Was in der Studie für mich zu wenig angesprochen wird, sind Zusammenhänge zwischen den Einflussfaktoren bzw. förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen. Grundschule überfülltZum Beispiel wirkt der Einflussfaktor ‚Klassengröße‘ nur wenig auf die Schülerleistung, was mit Hatties Erklärungen nachvollziehbar ist. Der Einfluss auf den Arbeitsaufwand und den Energieeinsatz der Lehrperson ist jedoch massiv.

Da lt. Hattie die Lehrperson den stärksten Einfluss auf die Schülerleistung hat, wirft das für mich die Frage auf:

Welchen Rahmenbedingungen brauchen Lehrer/innen, damit sie positiv auf die Lernleistung ihrer Schüler/innen wirken?

lehrerzimmer3

Möglicherweise tue ich Hattie hier jedoch unrecht, da diese Frage vielleicht einfach noch nicht bis Mitteleuropa durchgedrungen ist und hier in dieser Form (noch) nicht gestellt wird – in Neuseeland ist sie vielleicht schon lange beantwortet.

Kritik an der Übersetzung

Die Übersetzung birgt viel Potenzial für Missverständnisse. Zum Beispiel sind praktisch alle Studien bzw. Metastudien in Ländern durchgeführt worden, die sich durch Bildungssysteme mit folgenden Merkmalen auszeichnen:

  • Gesamtschule,
  • Ganztagesschule,
  • keine klassengeführte Organisation
  • keine Noten in Grundstufe und teilw. Sekundarstufe I,
  • Modulare Sekundarstufe I und II,
  • standardisierte Leistungsfeststellung als Reifeprüfung,
  • kein Sitzenbleiben sondern maximal Modulwiederholungen,
  • leistungsbezogene Lehrergehälter,
  • weitreichendere Schulautonomie,

john hattieMeiner Meinung nach wird dies in der Übersetzung viel zu wenig berücksichtigt bzw. wurde verabsäumt, durch entsprechende Anmerkungen bzw. Fussnoten bei den jeweiligen Merkmalen auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu verweisen.

John Hattie wird nicht müde zu betonen, dass der Lehrer/die Lehrerin jene Person ist, die wirklich, wirklich Einfluss auf die Lernleistung der Schüler/innen haben. Die Bedeutung, die er den Lehrpersonen gibt, hat die Wochenzeitung „Die Zeit“ aufgegriffen und durch den Artikel „Ich bin superwichtig“ Hatties Werk im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Dieser Artikel zeigt die Problematik der Interpretation der Hattie-Studie bereits in der Unterüberschrift „Kleine Klassen bringen nichts, offener Unterricht auch nicht.“: die Ergebnisse werden für eigene Sichtweisen instrumentalisiert. Denn genausogut hätte diese Unterüberschrift lauten können: „Kleinere Klassen bringen ein halbes Jahr Vorsprung, offener Unterricht ist besser als traditioneller.“ und wäre entsprechend Hatties Studie auch richtig gewesen.

Conclusio

Die Hattie-Studie hilft jenen, die im Bildungssystem tätig sind, Lehrer/innen aber auch z.B. Eltern, eigene Glaubenssätze über ‚Schule‘ zu hinterfragen und zu klären – was durchaus schmerzhaft sein kann, da EntTäuschungen wahrscheinlich sind.

Empfehlung

Meiner Meinung kommt niemand, der in schulpolitische Entscheidungen involviert ist, um die Hattie-Studie herum:

Die Hattie Studie nicht zu lesen, wäre fahrlässig!

Das Leben ist schön 🙂
Thomas