Die Tigerfrau

Téa Obrecht: Die Tigerfrau

Natalie ist im Begriff mit ihrer Arbeitskollegin jenseits der Grenze zu reisen, ins ehemalige Feindesland, um dort als Ärzin in einem Waisenhaus die Kinder mit Medikatmenten zu versorgen, als sie vom Tod ihres Großvaters erfährt. Das ist die Geschichte der Gegenwart, der Faden, an demNatalies Erinnerungen an den Großvater aufgefädelt sind – wie an einer Perlenschnur. Einerseits die Erinnerung an den Großvater selbst, andererseits die Erinnerungen an die Geschichten des Großvater, die er ihr erzählte.

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In Wirklichkeit sind es nur zwei Geschichten: die der Tigerfrau und die des Mannes, der nicht sterben konnte. Diese beiden Geschichten breiten das ganze Leben des Großvaters aus und lassen schließlich eine Deutung des etwas seltsamen Verhaltens des Großvaters knapp vor seinem Tod zu.

Der Roman zeichnet die von Aberglaube durchzogene Dorfgemeinschaft, in die der Großvater hineingeboren wurde und aufwuchs. Eine Welt, in der selbst der Teufel zur Deutung der Geschehnisse herangezogen werden muss, in der Legenden wichtiger sind als Wahrheiten. Bis in die Gegenwart strahlen Mythen und Aberglaube: rational bereits über Bord geworfen, wirken sie noch aus dem hintersten Winkel der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen und zwingen zu ritualisierten Handlungen.

Die Lebenswirklichkeiten der Urgroßmutter, des Großvaters und jener Menschen, die das Leben des Großvaters so wesentlich beeinflussten, werden liebevoll zusammengesucht, abgestaubt und aufgestellt – ohne Wertung und Deutung. Natalie, die dem Aberglauben (als Ärztin) selbst nicht verfallen ist, lässt ihn und respektiert ihn bei den sie umgebenden Menschen.

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Nicht als Erzählung zentral, so steht doch auch der Krieg (im ehemaligen Jugoslawien) im Mittelpunkt des Buches – durch seine Allgegenwärtig für Natalie. Praktisch nebenher wird der Umgang der Menschen mit dem Kriegszustand, mit der Bedrohung, geschildert:
Krieg während der Kindheit,
Krieg erlebt von Jugendlichen,
vom Krieg betroffen als Erwachsener, Krieg, der lange noch nach seinem Ende, als Schatten über den Menschen liegt.

Ein gelungener, vielschichtiger Roman, wunderschön erzählt – eine Empfehlung.

Das Leben ist schön,
Thomas